
'Klingende Systeme'
Aufstellungsarbeit (nach Satir und Timmermann)
Musik ist im therapeutischen Prozess wie jede andere künstlerische Gestaltung Ausdruck einer inneren Befindlichkeit. Gleichzeitig kann Kunst mit ihrer besonderen Fähigkeit, Zeit, Raum und Kausalität zu verwandeln, sich ablösen von ihrer realen Entstehungsgeschichte. Geschehnisse der Vergangenheit werden gegenwärtig. Einzelnes wird hörbar im gemeinsamen Klanggefüge. Jeder Einzelne verändert das Ganze, und jeder Klang bekommt seine Bedeutung erst im Zusammenhang mit den anderen, mit der Gegenwart, der Zukunft und der Vergangenheit. So kann Neues aufscheinen: Obwohl das, was entsteht, so und nicht anders ist, wird gleichzeitig bewusst, dass die Musik als etwas „von mir selbst Gemachtes“ entsteht, also auch ganz anders sein könnte. Im kreativen Prozess scheint so im Tun bereits die Möglichkeit zur Veränderung auf.
Auch zeigt sich beeindruckend deutlich, wie das Familiensystem auf die verschiedenen Deutungen reagiert. Wenn die Familie – nachdem jeder seine eigene Wahrnehmung der Improvisation erläutert hat – aufgefordert wird, noch einmal zu improvisieren, klingt die gemeinsame Musik schon ganz anders: Spieler nehmen sich heraus, leise Töne werden laut, Musikinstrumente stimmen nicht mehr und wollen ausgetauscht werden. Im Zusammenspiel, in dem jeder sich selbst ausdrückt und dennoch bezogen bleibt auf die anderen Familienmitglieder, zeigt sich das System, wie es entstanden ist und wie es sich im Miteinander verändern kann. Musik ist nur Musik, wenn sie gehört und verstanden wird, d. h., in der Musik findet immer ein Dialog statt, mit dem Instrument (und seinen Möglichkeiten), mit sich selbst oder mit einem anderen Spielenden.
Musiktherapie wendet sich – wie bereits ihr Medium Musik – unmittelbar an das Gemüt. Musik ist nicht „erklärbar“, sie spricht direkt von „Seele zu Seele“, in der Eindeutigkeit des Gefühls, jenseits aller Rationalisierungen. Und so sperren sich musiktherapeutische Aufstellungen daher durch das Medium an sich einem allzu direktiv-deutenden Eingreifen des Therapeuten. Besonders beeindruckend dabei ist, wie das Medium selbst eine führende Rolle übernimmt.
Der Therapeut lässt die Seele ihre Potenziale hören und sich entwickeln, langsam, im eigenen Tempo. Musik lässt sich vom Therapeuten nicht beschleunigen, ohne dass der Charakter der „Melodie“ verändert wird. Und so kann auch der Musiktherapeut nur dann hören, „was gespielt wird“, wenn er der Entwicklung die Zeit gibt, die sie braucht. Zeit zu geben aber bedeutet, an eine heute viel zu oft vergessene Ressource wieder anzuschließen.
So wird durch die Musik eine Haltung therapeutischer Achtsamkeit unterstützt, gerade weil sich das Geschehen dem Begreifen entzieht. Der Therapeut wird wieder zum Begleiter dessen, was im Moment entsteht, ohne vorwegzunehmen, was sein soll. Eine begriffliche Deutung ist auch später weder nötig noch möglich. Dennoch ist die Wirkung des Schlussbildes eindeutig, wenn gute Plätze für jeden Einzelnen gefunden werden. Die Lebendigkeit des gemeinsamen Spieles gibt Raum für Lebensfreude und eröffnet vielfältige und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten.
Der Prozess musiktherapeutischer Aufstellungsarbeit
Phänomenologische Haltung des Aufstellenden
Die Aufstellenden handeln nicht geplant sondern intuitiv. Sie vergegenwärtigen ihre Wirklichkeitserfahrung in dem jeweiligen System, so, wie sie sich darin fühlen. Sie öffnen sich, um sich zu zeigen, um dass, was sie spüren und ahnen ans Licht zu bringen. Die Wirklichkeit und die systemischen Wirkkräfte lassen sie auf sich wirken, so, wie sie sich zeigen. Die Aufstellung ist eine Sprache ohne Worte - wie die Musik, die dabei entsteht. Und auch die Nachwirkung geht über das, was nach der Aufstellung verbalisiert wird, hinaus.
Phänomenologische Haltung der Stellvertretung
Die Stellvertreter werden zu einer vergleichbaren Haltung eingeladen. Sie verzichten auf eigene Absichten und stellen sich in den Dienst der jeweils Aufstellenden, indem sie sich leibseelisch dort einfühlen, wo dieser sie hingestellt hat und den Impulsen folgen, die dort und im weiteren Verlauf des Prozesses auftauchen. Ihre Wahrnehmung ist geschieht dan aus dem aufgestellten System heraus; ansonsten verlassen sie sich auf den Leiter.
Einzelmethode
Der Klient (K) bespricht mit dem Therapeuten (T) sein Anliegen; T schlägt K vor, wen er aufstellen soll und in welcher Haltung dies am besten gelingt.
K wählt Instrumente als Repräsentanten und stellt sie zueinander auf. T erfragt von jedem die Blickrichtung bzw. eruiert diese, indem er K an jedem Platz stehen lässt; er macht sich eine entsprechende Skizze. K kann sich nun zunächst spontan verbal oder nonverbal (musikalisch, gestisch-mimische...) äußern. Oder K stellt sich an seinen Platz und an die Plätze der anderen und spielt, wie er sich dort jeweils fühlt; dabei werden auch Veränderungen im Spiel beachtet. Themenorientiertes Spielen von K für (nicht als!) jemand aus dem System. Suche nach Lösungen: experimentelles Umstellen der Instrumente durch T, evt. auch K, wobei darauf zu achten ist, dass hierbei nicht gewohnte Wege zu Scheinlösungen führen.
Gruppenmethode
Der Klient (K) bespricht mit dem Gruppenleiter (GL) sein Anliegen. GL schlägt ihm vor, wen er aufstellen soll und wie er dies am besten tut. K sucht Stellvertreter (SV) aus und ordnet ihnen Instrumente zu. K stellt die SV mit Körperkontakt auf, wie sein Gefühl es ihm eingibt. Dann stellt er die Instrumente vor sie hin. GL lädt die SV ein, sich einzufühlen und dann, ihren Impulsen folgend, zu improvisieren.
Exploration der Familiendynamik: die SV spielen so, wie sie sich an dem Platz fühlen, wo sie stehen. Dabei erklingt das System als Ganzes, inclusive der interpersonellen Dynamik – des Zusammenspiels. Anschließend kommen SV und K verbal zur Wort. Neben dem musikalischen Prozess fließen auch verbal ihre Gefühle und Eingebungen in den Prozess ein.
Suche nach Lösung: In einer weiteren Improvisation bewegen sich die SV, ihren inneren Impulsen folgend.
Mögliche Interventionen des GL: noch weitere wesentliche Personen oder Aspekte des Konfliktes hineinnehmen, experimentelles Umstellen, musiktherapeutische Angebote.
Schlussbild: hier ist die momentan bestmögliche Lösung erreicht.
(aus: Tonius Timmerman 'Klingende Systeme', 2010)

Die im therapeutischen Kontext gewinnt durch die
Kombination mit musiktherapeutischen Elementen eine
neue Dimension. In Improvisationen mit einfachen Instrumenten, Stimme und Bewegung folgen die Teilnehmer inneren Impulsen, die nach außen drängen, sich dort gestalten und Wandlungsprozesse initiieren.
Den Stellvertretern in Aufstellungen wird dabei sinnvolle Gleichzeitigkeit im nonverbalen Ausdruck ermöglicht.
Die Musik gibt Zwischentönen und Unaussprechlichem Raum, lässt Zugehörigkeit sinnlich erlebbar werden. Der Lösungsprozess vollzieht sich wie das allmähliche Stimmen eines Instruments.